Agil-iterative Verbundenheit entlang der Wertschöpfungskette
Agil-iterative Verbundenheit entlang der Wertschöpfungskette
Egal ob VUCA[1], BANI[2] oder TUNA[3]: Unsere Welt ist unsicher und unbeständig geworden. Bedingungen und Situationen verändern sich plötzlich und unvorhersehbar, oft durch externe Faktoren wie Wahlen, Krisen, technologische Innovationen oder Marktveränderungen. Planung und Vorhersagen werden daher immer mehr zur Herausforderung, da verlässliche Informationen über zukünftige Ereignisse fehlen. Zudem ist die Welt durch Globalisierung, Digitalisierung und vielfältige Abhängigkeiten immer komplexer geworden. Entscheidungen haben oft unerwartete Nebenwirkungen. Und es gibt häufig keine klare und richtige Antwort auf wichtige Fragen, weil Informationen widersprüchlich oder unvollständig sind.
Beständigkeit und Stabilität sind Relikte aus vergangenen Zeiten. Die Fassade, die Sicherheit und Resilienz gegen die auf globaler Ebene stattfindenden Umwälzungen suggerieren soll, bröckelt. Die Anstrengungen, welche durch die Politik während der letzten Jahre unternommen worden sind, täuschen Stabilität und Sicherheit vor und wirken beinahe verzweifelt. Statt Unwissenheit und Unsicherheit unumwunden zuzugeben, trifft Scheinbarkeit auf Scheinheiligkeit.
Die Gewissheit von VUCA, BANI oder TUNA ist nicht neu. Doch sind Veränderungen nicht nur mannigfaltig, komplex und unvorhersehbar geworden, sie hinterlassen mit hoher Wahrscheinlichkeit bleibende und irreparable Schäden. Autokratien entstehen, aus Verbundenheit wird Gegnerschaft, ein Rechtsruck scheint unaufhaltsam. Kurz: Das Leben, wie wir es kennen und schätzen, wird auf den Kopf gestellt.
Die Politik kann während der nächsten Jahre auf der Makroebene keine Beständigkeit und Sicherheit garantieren. Politik, verstanden als die Gestaltung des Rahmens, um gesellschaftliches, soziales, kulturelles und wirtschaftliches Leben zum Wohle aller zu ermöglichen, ist zu einer wahrhaftigen Herausforderung geworden. Wir können keine Wunder oder einfache und schnelle Lösungen erwarten. Politik als Prozess der Rahmengestaltung ist überfordert und verunsichert.
Mir geht es hier nicht um Schuldzuweisungen, auch nicht um die Suche nach einem Sündenbock. Schließlich besteht die Gesellschaft aus weit mehr als Politikern. Wir sind alle Bürger und verpflichtet, Verantwortung zum Wohle der Gesellschaft zu übernehmen. Jedoch sind die Einschläge, die uns treffen, zu groß. Wir sind bis ins Mark getroffen, unsere sozialliberale Demokratie ist in Gefahr. Die Welt ordnet sich neu. Waren wir blind und naiv? Blind für die potenziellen Entwicklungen und Gefahren, die uns nun erreichen? Naiv im Hinblick auf die Beständigkeit von Bündnissen und Partnerschaften? Ich denke, dass es an der Zeit ist, aus dem Dornröschenschlaf zu erwachen und sich den Herausforderungen zu stellen – auf der Makro- und vor allem auch auf der Mikroebene.
Die globalen Veränderungen treffen nicht nur die Gesellschaft und die Wirtschaft im Allgemeinen. Denn kein Tag vergeht ohne Hiobsbotschaften aus der Industrie und dem Handel: Entlassungen, Gewinnwarnungen, Einsparprogramme, Werksschließungen. Gleichzeitig werden Rufe nach einer Verlängerung der Arbeitszeiten lauter. Löst dies tatsächlich die Probleme? Müssen wir tatsächlich länger arbeiten, um wettbewerbsfähig zu bleiben? Oder ist dies eine weitere Verzweiflungstat aus Unsicherheit und Unwissenheit heraus, meiner Meinung nach schon an Polemik grenzend?
Die Wirtschaft, und insbesondere die Unternehmen, die in Summe das Rückgrat für Wachstum und gesellschaftlichen Wohlstand sind, sind gleichfalls mit Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Widersprüchlichkeit konfrontiert. Wie umgehen mit diesen Herausforderungen? Es gilt umzudenken. Statt eine Verlängerung der Arbeitszeit zu propagieren, muss der Fokus auf Veränderungen bei Denk- und Arbeitsweise sowie auf die Arbeitseinstellung gelegt werden. Der Wahlspruch muss lauten: Nicht länger, sondern klüger arbeiten. Doch was bedeutet es, klüger zu arbeiten? Wie müssen Unternehmen heute und in Zukunft agieren, um langfristig erfolgreich zu sein? Wie kann sich Industrie und Handel, zumindest in Ansätzen, unabhängiger von den durch die Politik geschaffenen Strukturen und Rahmenbedingungen machen?
Es gibt keine Blaupausen, keine universellen oder vorgefertigten Lösungen. Jedes Unternehmen ist einzigartig und differenziert sich in vielerlei Hinsicht: Produkt- oder Leistungsspektrum, Märkte, Vision und Strategie oder Kultur und Umfeld, um nur einige Merkmale zu nennen. Jedoch kann die Art und Weise, wie wir denken, verändert werden. Unsere Einstellung, unser Mindset ist wandelbar. Altes Denken kann verlernt, und neues erlernt werden.
Sind wir ehrlich: Zahlreiche Unternehmen verharren nach wie vor zu häufig in starren und veralteten Denkstrukturen. Der Glaube an Beständigkeit und Robustheit überwiegt. Trotz VUCA ist das Prinzip Hoffnung allgegenwärtig. Strategien und Konzepte zur Unternehmens- und Organisationsentwicklung sind nach wie vor langfristig angelegt. Veränderung gilt als aufwändig, antizipierter Widerstand und existierende Beharrungskräfte erschweren oder ersticken wichtige Ansätze zur Umgestaltung bereits im Keim.
Nicht nur auf der politischen und makroökonomischen Ebene, sondern auch in Unternehmen herrschen Unwissenheit und Unsicherheit vor. Wie soll das in der heutigen schnelllebigen und instabilen Zeit auch nicht der Fall sein? VUCA ist das neue Normal. Ist es daher nicht zielführender, diese Unsicherheit und Unwissenheit offen zuzugeben und sich für Denkansätze und Strategien zu öffnen, die ein erfolgreiches Navigieren durch das Wirrwarr der modernen Zeit wahrscheinlicher machen?
Werfen wir einen kurzen Blick auf das Denken und Handeln im Projektmanagement. Im Jahr 2001 wurde das Agile Manifest[4] für Softwareentwicklung von 17 Softwareentwicklern verfasst. Daraus entwickelten sich wertvolle Ansätze für das Management von Projekten. Bekannt geworden und verbreitet haben sich insbesondere Scrum und Kanban. Hintergrund für das Verfassen des Agilen Manifests war die Erkenntnis, dass traditionelle Methoden der Softwareentwicklung zu starr und ineffizient sind. Zahlreiche Softwareprojekte scheiterten an zu langen Planungsphasen, unflexiblen Prozessen und der Unfähigkeit, auf sich ändernde Anforderungen zu reagieren. Die Entwickler erkannten, dass erfolgreiche Projekte mehr auf flexibler Zusammenarbeit, schnellem Feedback und kontinuierlicher Verbesserung basieren sollten, statt auf schwerfälliger Bürokratie und detaillierte Pläne. Mit dem Manifest wollten sie eine gemeinsame Basis für agile Methoden schaffen, um Projekte kundenorientierter, anpassungsfähiger und effizienter zu gestalten.
Die Idee einer agil-iterativen Denk- und Arbeitsweise war geboren. Agil steht für eine flexible, anpassungsfähige Arbeitsweise, die auf schnelle Reaktionen auf Veränderungen, inkrementelle Fortschritte und kundenorientiertes Handeln setzt. Agilität bedeutet, starre Planungen zu vermeiden und stattdessen mit kurzen Zyklen und regelmäßigen Anpassungen zu arbeiten. Iterativ bedeutet, dass ein Prozess in wiederholten Zyklen (Iterationen) durchlaufen wird, wobei jedes Mal Verbesserungen vorgenommen werden. Dieses Prinzip ist typisch für Methoden wie PDCA oder Scrum. Eine agil-iterative Denk- und Arbeitsweise setzt demnach auf eine dynamische und schrittweise Vorgehensweise, die auf kontinuierliche Anpassung und Verbesserung, also kurzzyklisches Lernen und Adaption, setzt. Meiner Meinung nach kann sie auch die Antwort auf VUCA sein. Agil-iteratives Denken und Handeln kann auf ein Unternehmen als Ganzes ausgeweitet werden. Wie kann dieser Ansatz Unternehmen dabei unterstützen, auch in Zukunft erfolgreich sein zu können?
Zunächst müssen wir ernsthaft akzeptieren und verinnerlichen, dass Beständigkeit und Stabilität nicht mehr gegeben sind. Die VUCA-Welt ist allgegenwärtig. Makroökonomische Strukturen erfahren irreversible Veränderungen. Der politische und wirtschaftliche Rahmen ist unsicher und fragil. Wir dürfen nicht darauf hoffen, dass VUCA ein vorübergehender Zustand ist, sondern müssen annehmen, dass es der Normalfall ist und bleiben wird. Ohne diese Einsicht und Akzeptanz bleiben wir zu sehr an der Oberfläche und gehen wichtige und tiefgreifende Veränderung nicht, oder nur halbherzig, an.
Ebenfalls müssen wir lernen zu akzeptieren, dass langfristiges Planen zunehmend illusorisch wird. Pläne versuchen die Zukunft vorherzusehen und abzubilden. Dies war schon immer eine Herausforderung und ihre Zweckmäßigkeit wurde nicht zuletzt durch die Begründer des Agilen Manifest in Frage gestellt. Zwar stehen unterschiedliche Analysen und Techniken zur Verfügung, wie etwa Risikoanalysen, Szenariotechniken oder Kotter’s 8-Stufen-Modell, um die Wahrscheinlichkeit einer realistischen Planumsetzung zu erhöhen. Doch in Zeiten von Unbeständigkeit, Unsicherheit, Widersprüchen und steigender Komplexität ist das Risiko groß, dass diese Methoden und Techniken vollends versagen und dass Planung zu einem anciet Verhalten verkommt, nach dem Motto: Besser einen unrealistischen Plan verfolgen als überhaupt keine Übersicht zu haben.
Ich möchte Planung nicht grundsätzlich kritisieren. Pläne können richtungsweisend sein. Doch wie wertvoll sind vor allem langfristige Pläne, wenn die Zukunft immer unsicherer und fragiler wird? Möglicherweise sollten Ziele (und Visionen) mehr in den Vordergrund rücken. Dadurch behalte ich ein Mindestmaß an Orientierung und kann Pläne agil-iterativ gestalten. Jedoch müssten nicht auch Ziele und Visionen regelmäßig auf den Prüfstand gestellt werden? Auch dieser unterliegen der VUCA-Welt. Beständigkeit und Sicherheit sind auch bei Visionen und Zielen nicht mehr gegeben.
Auch darf agil-iteratives Denken und Handeln nicht auf einzelne Unternehmensbereiche oder Hierarchieebenen beschränkt sein. Ein Unternehmen muss als Wertschöpfungsprozess, und nicht als starres Organisationskorsett oder als fragmentierte Entität, aufgeteilt in Bereiche und Abteilungen oder Hierarchien, definiert werden. Die Art und Weise, wie Wert geschaffen wird, muss ins Zentrum rücken. Und eben dieser Wert wird durch die Verkettung von Aktivitäten entlang der gesamten Wertschöpfungskette erzeugt. Klassische Abteilungsstrukturen, die oft Silo-orientiert sind, müssen einer wertstromorientierten Perspektive weichen. Jede Abteilung und Hierarchieebene muss einen aktiven Beitrag zur Wertschöpfung liefern und Werterzeugung ermöglichen. Es braucht also einen Perspektivwechsel, vom Abteilungs- zum Wertschöpfungsprozessdenken.
Agil-iteratives Denken und Handeln entfaltet seinen wahren Mehrwert also nur bei einer gesamtheitlichen und lösungsorientierten Betrachtung. Die Menschen als soziale Wesen, verbunden durch die gemeinsame Werterzeugung entlang der Wertschöpfungskette, stehen dabei im Zentrum. Trotz erheblicher Fortschritte in Automatisierung, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz bleibt der Mensch der entscheidende Erfolgsfaktor. Auch hier braucht es einen Perspektivwechsel. Gar einen Paradigmenwechsel? Agil-iteratives Denken und Handeln setzt Verbundenheit und Anpassungsfähigkeit voraus – auf allen Ebenen im Unternehmen. Es müssen inklusive Bedingungen geschaffen werden, die eine Entwicklung hin zu einem agilen Unternehmen fördern: Verbundenheit statt Abgrenzung, Prozess- statt Abteilungsfokus, Flexibilität und Adaption statt starrer Strukturen und Regeln, Lernen und Experimentieren statt Schuldzuweisung und Verharren in Altbekanntem.
Beständigkeit und Stabilität sind nicht mehr gegeben. Oder sind sie doch möglich, nur anders? Gewiss, die Außenwelt ist unbeständig und unsicher. Starre Strukturen und das Festhalten an bekannten Lösungen und Denkweisen sind nicht mehr zielführend. Jedoch: Stellt nicht Verbundenheit entlang der Wertschöpfungskette eine neue Form der Beständigkeit dar? Wenn es gelingt, diese Verbundenheit im sozialen Miteinander herzustellen und aufrechtzuerhalten, wird dann nicht Sicherheit und Beständigkeit erreicht, nur in anderer Form? Verbundenheit ist die neue Beständigkeit. Sie gibt Stabilität. Sie macht resilient. Innerhalb dieses Rahmens wird agil-iterativ gedacht und gearbeitet. Innerhalb dieser neuen Form der Beständigkeit ist Veränderung in Form von Lernen, Experimentieren, Verändern und Anpassung möglich.
Gewisse: Diese neue Perspektive erfordert ein Umdenken in zahlreichen Bereichen und viele Fragen drängen auf eine Antwort. Wie kann ein Mindset weg vom Silo-Denken und hin zum Prozessdenken erreicht werden – im gesamten Unternehmen? Wie kann es gelingen, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, welche Sicherheit im Miteinander fördert und gemeinsames Wachstum und gemeinsame Potenzialentfaltung erst ermöglicht? Welche Rolle spielt Führung? Geht es um Status oder Reputation? Wie wird mit Macht umgegangen? Wie kann eine Organisation unterstützend gestaltet werden? Wie wichtig wird Wissensmanagement und welche Rolle spielen Digitalisierung und KI? Diese, und weitere Fragen, gilt es zu beantworten. Ich denke, dass es wertvoll ist, sich mit dieser Idee einer agil-iterativen Verbundenheit entlang der Wertschöpfungskette als Antwort auf VUCA aktiv auseinanderzusetzen. Agil-iterativ bedeutet eben auch, kurzzyklisch und kritisch auf den Status Quo zu blicken und diesen zu hinterfragen. Was es dazu braucht? Mut? Einsicht? Freude an der Gestaltung? Oder fehlt uns einfach das Vorstellungsvermögen, da wir bereits zu sehr im Altbekannten – jedoch nicht mehr Altbewährten – verharren?
[1] VUCA: Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität), Ambiguity (Mehrdeutigkeit)
[2] BANI: Brittle (brüchig), Anxious (ängstlich), Nonlinear (nichtlinear), Incomprehensible (unverständlich)
[3] TUNA: Turbulent, Uncertain (unsicher), Novel (neu denken), Ambiguous (mehrdeutig)
[4] Nachzulesen unter https://agilemanifesto.org/